Unsere Geschichte

«Es wurde schon viel, ganz Unterschiedliches in Richtung Gemeinschaft versucht, Wundervolles geschaffen und Tolles geleistet, hier bei uns wie auch in unzähligen Gemeinschaften auf der ganzen Welt – ohne dass wir dabei das Gescheiterte, Abstruse, Perverse und Kranke vergessen wollen.
Und trotzdem könnte man doch nochmals das ganz Neue wagen, sich für Unbekanntes öffnen und sich zumindest bereithalten für das Nie-Dagewesene.»

Joshuan, Vortrag am Gemeinschaftssymposium der Kirschblütengemeinschaft im August 2016

Samuel und Danièles Beziehung: Der Anfang von allem

Familie Samuel Danièle Rahel Joshuan

Nachdem Samuel und Danièle bereits ein Jahr Beziehung gelebt hatten, zog Danièle 1991 mit einer Freundin zusammen in ein Häuschen, das auf Samuels Grundstück in Nennigkofen und direkt neben dem grossen Haus stand, in dem er mit seiner Frau Verena und seinem Sohn Cyrill wohnte. Samuel lebte fortan in beiden Häusern und – nachdem 1992 und 1993 Samuels und Danièles erste gemeinsamen Kinder, Rahel und Joshuan, geboren wurden – mit beiden Familien zusammen. Obwohl Samuels erste Frau anfänglich mit der Dreiecksbeziehung einverstanden war, trennte sie sich bald von Samuel und verliess das gemeinsame Haus und das Dorf. So zogen Samuel und Danièle mit ihrer jungen Familie 1993 in das grössere Einfamilienhaus, das bis heute das Familienzuhause ist. Das gemeinschaftliche Zusammenleben über die klassische Familiengrenze hinaus blieb also zunächst eine Vision – eine Geschichte, die Samuel in seinem Roman «kirsch­baum­blüten­blätter­weiss» voraus­gedacht und fest­gehalten hat.


«Niemand versteht es, eine neue Geschichte zu erzählen. Niemand scheint sich eine neue Geschichte überhaupt denken zu können. Alle Geschichten verlaufen in den Schienen der ewig bekannten Muster. Es ist richtig langweilig. (…)
Dass sich die Liebe ausbreitet, dass ein Feld von Liebe und Freundschaft entsteht – stellt euch das einmal vor: Ein völlig konfliktfreies Feld offener, ehrlicher, liebender Beziehungen, niemand kann sich das denken offenbar, es hat nicht Platz in unseren eng strukturierten Köpfen und geizig verschlossenen Herzen –, dass ein solches Feld entsteht, scheint unvorstellbar zu sein. Eine neue Geschichte müsste vor allem eine gemeinsame sein, das gemeinsame Glück stünde darin vor dem persönlichen. Es wäre eine Geschichte vom Miteinander-Leben, eine Geschichte des Füreinanders.»

Aus: Samuel Widmer, kirsch­baum­blüten­blätter­weiss 1999, S. 16

Leicht wie Kirschblütenblätter im Wind

Samuel und Danièle gaben in ihren Gruppen und Seminaren, die damals noch im Dachstock ihres Wohnhauses stattfanden, immer wieder zu bedenken, dass aus ernsthafter Selbsterkenntnis natürlicherweise ein gemeinschaftliches Zusammenleben erwachsen müsse und zeigten sich leidenschaftlich an der Erforschung neuer Lebensformen interessiert. Beispielsweise in der von Manfred initiierten Freundschaftsgruppe, die 1994 als eine der ersten fortlaufenden Seminarreihen entstand, und zu der sich bereits mehrere der späteren frühen Kirschblüten trafen. Als erste folgten Sascha und Holger mit ihrem einjährigen Sohn Arvo dem Ruf nach Gemeinschaft und zogen 1996 in das kleine Haus neben Samuel und Danièle. Ein halbes Jahr später stiess Ulrike dazu. «Zu der Zeit haben wir alle jeden Tag zusammen zu Mittag gegessen. Entweder bei Danièle und Samuel oder bei uns», erinnert sich Holger. Im Nachbarshaus auf der anderen Seite lebten Samuels Bruder Markus und dessen Frau Irène. Als nächste kamen Marianne und ihr damaliger Mann Marco mit dem gemeinsamen Sohn Luca Dario. Auch für sie wurde 1997 – wie durch ein Wunder – ein Haus in unmittelbarer Nähe in der Rebe frei. Zwischen den Häusern lag damals noch eine grosse Wiese mit Kirschbäumen und Schafen. Als weitere Menschen aus der ganzen Schweiz und aus Deutschland kamen, die sich für gemeinschaftliches Zusammenleben interessierten, wuchs hier 1998 das erste Gemeinschaftsprojekt: Drei Mehrparteien-Holzhäuser wurden errichtet.

«Als die ersten zarten Bande im Gemeinschaftsgeist begannen, standen die Kirschbäume blühend weiss auf dieser Wiese.
In offenen Meditationen sind wir damals des Nachts auf den Fundamentplatten der sich im Rohbau befindlichen Häuser gehockt und haben dem erwachenden Gemeinschaftsgeist nachgespürt.»

Holger


So wuchs die Gemeinschaft rasch zu sieben Häusern mit ca. 20 Kindern und 20 Erwachsenen an. Anfänglich verband uns einfach das Bedürfnis nach anderem, näherem und freierem Zusammenleben. Es wurden erste gemeinsame Ferien im Turbachtal (1997), in Las Palmas (1998) und in der Toskana (1999) gemacht.

Ramilah, das erste Gemeinschaftskind

Erst 1998 erkannten wir, dass unser Zusammenleben wohl als Gemeinschaft bezeichnet werden kann: Eine bestehende Gemeinschaft aus Deutschland schrieb uns an und fragte, ob wir uns über unsere Erfahrungen als solche austauschen wollten. In diesem Zuge begannen wir über einen Namen für unsere Gemeinschaft nachzudenken: Wir nannten uns «Kirschblüten-Gemeinschaft» und den Hof, der in unserem Zentrum den gemeinsamen Treffpunkt bildete «Hof zur Kirschblüte». «Gleich zerstörbaren, zarten Kirschbaumblütenblättern im Frühlingswind wollten die ihr Zugehörigen sein, nur gebunden durch die Bande der Liebe, der Freundschaft, der Einheit (Samuel Widmer, Zusammen leben 2013, S.18).»

Familie Samuel Danièle Marianne RamilahIm selben Jahr wurde Ramilah als erste Tochter von Samuel und Marianne und erstes richtiges Gemeinschaftskind geboren. Marianne hatte sich bald nach ihrer Ankunft auf eine Dreiecksbeziehung mit Samuel und Danièle eingelassen – woraus über die nächsten Jahre in den zwei benachbarten Häusern eine Grossfamilie mit beinahe einem Dutzend Kindern entstehen würde.

Zudem wuchs das Bauernhausquartier als zweites Kirschblütenquartier: Samuel und Danièle wurden von Samuels Bruder auf ein altes Bauernhaus in Lüsslingen aufmerksam gemacht und sie bauten es mit anderen Kirschblüten zu einem Wohn-, Praxis- und Seminarhaus um. 1999 wurde es bei einer öffentlichen Praxiseröffnung, zu der neben den ärztlichen Berufskollegen das ganze Dorf eingeladen war, eingeweiht. Neben dem Geschäftsbetrieb wurden hier bald viele Willkommensfeste für Gemeinschaftskinder gefeiert und im Bauernhausgarten Geburtsbäume für diese gepflanzt. Ein alleinstehendes Häuschen im Dorf wurde mit Unterstützung von Samuel und Danièle – inklusive dem gesammelten und auf Eigeninitiative investierten Bauernhaus Umbau Taschengeld eines der Kinder – für Franziska und ihre Familie gekauft. Und später folgten über das ganze Dorf verteilt das Ärdbeerihogerquartier (2004 – 2007), das Sternenmattquartier (2006), das Dorfstrassenquartier (2009), das Mühlegartenquartier (2008 – 2010) und der Gemeinschaftshof Rössli (2016) und die Gemeinschaft wuchs zeitweise auf etwa 120 Erwachsene und 100 Kinder an. Die allermeisten unserer Kinder sind Zuhause geboren. Sie in einer liebevollen, heimatlichen Atmosphäre willkommen zu heissen, ist uns besonders wichtig. Während der Schwangerschaft und Geburt suchen viele unserer Eltern neben der Unterstützung einer Hebamme die spirituelle Begleitung von Danièle als Doula.

Mit dem Grösserwerden der Gemeinschaft entstanden erste nützliche Strukturen, die das Zusammenleben vereinfachen und das Lebendigbleiben unterstützen. Quartiersabende und ein Gemeinschaftsabend für Austausch und gemeinsames Forschen, neue Mittagstischkonstellationen und gemeinsame Kinderbetreuung, Waldtage für die Kinder, Gesprächs- und Meditationsgruppen für die Jugend, und vieles, vieles mehr.

Die Kirschblüte wird Thema des öffentlichen Interesses

Auch im und mit dem Dorf kümmerten und kümmern sich viele von uns um ein harmonisches Miteinander, organisierten Nachbarschaftstreffen, boten Tage der offenen Tür an, um Einblick zu geben in die Arbeitstätigkeit, die hier stattfindet, engagierten sich jahrelang in der Schul- und Umweltkommission, in der Lehrerschaft, im Elternverein, luden zu einem Frühlingskonzert in die Kirche ein, nahmen die lokalen Eltern-Kind-Angebote wahr oder pflegten Mitgliedschaften in den Jugend-Sportvereinen oder der Landfrauengruppe und die allermeisten unserer Kinder besuchen die Dorfschule. Trotz unserer guten Integration einerseits, bilden wir eine Art Dorf im Dorf. Denn, dass sich ein paar Menschen aus Liebe und dem Interesse an neuartigem Zusammenleben zusammentun, ist etwas Unvorstellbares – und Gerede, Sektenvorwürfe und Missgunst schnell zur Hand. Besonders die beginnende Liebesbeziehung von Marianne und Samuel, die nicht zur Trennung zwischen Danièle und Samuel führte, und das baldige gemeinsame Kind waren ein erster heftiger Anstoss für Unverständnis im Dorf. Manche Dörfler ereiferten sich in verbalen, energetischen, politischen und z.T. auch materiell-zerstörerischen Anfeindungen. Unsere Kinder wurden in der Schule zeitweise stark gemobbt und ausgegrenzt und man traf sich eine Zeit lang in Aussprachen und Anti-Mobbing-Veranstaltungen.

Ab 2001 wurde die Kirschblüten-Gemeinschaft öffentlich; zunächst auf lokaler und nationaler Ebene, später auch auf internationaler. Die Medien begannen über uns zu berichten. Der erste Artikel in der Solothurner Zeitung fiel noch recht anständig aus, stiess aber eine spätere, weitaus unfreundlichere und unwahrere Berichterstattung an. In dieser Zeit machte Samuel ein halbes Jahr Praxispause, die er teilweise auf Weltreise verbrachte, und erlebte die negativen Schlagzeilen dadurch bisweilen auch aus der Ferne mit.

«Ich entwickle mich hier allmählich zum Aktionskünstler. Wenn sie mir zuhause das Leben zu schwer machen, werde ich darauf umstellen. Was das ist? Nun, ich habe doch diesen Farbkasten von der Astrid bekommen. Nun male ich fleissig Bildchen, die ich dann, wenn sie trocken sind, wahrscheinlich alle verschenke. Viel mehr Freude macht es mir aber, die Bäume zu bemalen. Nach jedem Bild streiche ich die übrig gebliebene Farbe an einen Baum und füge noch den einen oder anderen roten, gelben oder blauen Tupfen dazu. Natürlich merkt kein Mensch etwas davon. Genauso wie bei uns sind die Leute ständig mit etwas – vor allem mit sich – beschäftigt, und sehen das Paradies, in dem sie zuhause sind, schon gar nicht mehr.»

Auszug aus einem Brief von Samuel an seine zehnjährige Tochter, Anfang 2002

Eine Folge des medialen Interesses an der Gemeinschaft waren u.a. diverse Stellenverluste, die insbesondere die therapeutisch und pädagogisch Tätigen unter uns trafen. Noch heute begegnet uns besonders in psycho­therapeutischen und psychiatrischen Kreisen eine ablehnende Haltung, die wohl auf unterschiedlichen Sichtweisen beispielsweise hinsichtlich der Psychotherapeutischen Praxis und Psycholytischen Forschung begründet sind. «Jetzt reicht’s!», Demonstration beschlossen wir 2011 und demonstrierten bei einer friedlichen Kundgebung in Solothurn mit schön gestalteten Plakaten, freundschaft­lichem Zusammensein und Strassenmusik gegen Mobbing wegen Zugehörigkeit zur Kirschblüten­bewegung und für wirkliche Gemeinschaft ohne Mobbing und Ausgrenzung. Unsere entsprechende Petition überreichten wir dem Solothurner Regierungsrat Gomm.

Obwohl wir nicht Freunde sind von Konfliktaustragungen über rechtliche Kanäle, sahen sich Einzelne von uns bei wenigen Anlässen genötigt, sich auch konkret zu wehren. In einer Klage gegen das rufschädigende öffentliche Auftreten zweier Solothurner Psychiater etwa, in der dem Klagenden schliesslich auch Recht gegeben wurde. Zu weiteren öffentlich-behördlichen Auseinandersetzungen rund um die Psycholytische Therapie und das Inzesttabu wurden andere später genötigt. Solche Angelegenheiten fordern jeweils viel Zeit und Energie, wir betrachten sie aber auch als Schulung und Möglichkeit zur Reifung. Erfreulicherweise haben sich zumindest auf privater und der Alltagsebene die grössten Wogen mit den Jahren wieder gelegt und z.B. mit vielen Lüsslinger und Nennigkofer und insbesondere auch jungen Familien im Dorf ist ein freundschaftliches Zusammenleben mit gemeinsamer Involvierung in diversen Projekten gewachsen. Auch auf medialer Ebene folgten mit den Jahren einige positive Berichterstattungen und Filmprojekte.

Internationale Vernetzung

2002 gründete Ursula die sozialtherapeutische Einrichtung «Villa Rosentau», die in den kommenden Jahren für Menschen, die sonst keinen Platz finden in der Welt, ein Zuhause bietet und Arbeitsplatz ist für viele in und ausserhalb der Gemeinschaft. 2005 gründeten wir die Therapeutisch-Tantrisch-Spirituelle Universität (TTSU) Nennigkofen-Lüsslingen; eine Organisationsstruktur, unter deren Dach sich alle Kräfte versammeln, die fähig geworden sind und sich dazu berufen fühlen, das Gelernte auf dem Weg der Selbsterkenntnis Indien und dem tantrischen Weg der Zurückweisung und des Verzichts in die Welt zu tragen. Die therapeutische, tantrische und spirituelle Arbeit von Samuel, Danièle und Marianne, verschiedene Vorträge und Lesungen von Samuel und Danièle in der Schweiz und in Deutschland, Bücher über Gemeinschaft von Samuel und anderen und weitere gemeinschaftsfördernde Projekte aus unseren Reihen vernetzen uns in ein grosses und weltweit gestreutes gemeinschafts­bildendes Feld. Seit 1994 verbinden uns intensive Freundschaften und langjährige Projekte mit Indien. Mit Uma besonders und einer Gruppe indischer Freunde um sie herum. Aus dieser Verbindung ist das «Neredu Valley Meditation and Healing Center» gewachsen. «Briefe auf leichtem Luftpostpapier wurden zwischen Indien und Zuhause ausgetauscht – es gab noch kein SMS, kein WhatsApp, kein E-Mail. Auf beiden Seiten wurden sie leidenschaftlich geschrieben und sehnlichst erwartet. Ins Weite ausgerichtet und auf Sehnsuchts­schwingen durchs offene Tief der Nacht gesendet… Das spirituelle Träumen hatte begonnen», erinnert sich Holger.

«Indien ist einfach unglaublich. Wie eine unwiderstehliche Geliebte. Jedes Jahr, bevor wir fliegen, denke ich, es sei völlig verrückt, eine solche Unternehmung in Gang zu setzen, so viele Menschen hierher zu locken. Und wenn ich dann hier bin – es beginnt schon nach den ersten fünf Minuten in der Warteschlange vor der Zollabfertigung im schmuddeligen, stickigen Flughafen –, fühle ich mich zuhause, angekommen daheim, und es ist absolut klar, dass ich wiederkommen werde, nächstes Jahr und immer wieder, dass es zwar tatsächlich verrückt ist, aber von dieser göttlichen Verrücktheit, die das Leben aus dem Sumpf des Gewöhnlichen, des Mittelmasses heraushebt. Es ist nicht einmal, dass es mir irgendwie besonders gefallen würde hier. Es gibt andere, schönere oder mindestens so anziehende Orte. Es ist einfach zuhause, und nachhause geht man immer wieder, man lässt sich da nieder, man kann von dort nicht mehr weg. Es ist Schicksal, unausweichlich. Man kann auch nicht sagen, woran es liegt. Jahr für Jahr versuche ich, es herauszufinden. Aber alle Erklärungen, die ich im Verlaufe der Zeit gefunden habe, musste ich wieder verwerfen. Keine fasst es ganz. Es bleibt ein Geheimnis.»

Aus: Samuel Widmer, kirschbaumblütenblätterweiss 1999, S. 38



Kongress 2013 2006 entstand eine neue Verknüpfung nach Brasilien und zur dort ansässigen Schamanenkultur. In Deutschland und in anderen Ländern Europas sind wir mit vielen Menschen und Lebensgemeinschaften seit Jahren in einer gemeinsamen Bewegung verbunden. Im WorldWide Magic Movement – einem Gefäss, das 2008 als Meisterstück aus dem ersten Meisterkurs (die Zusatzausbildung zu den Ausbildung­en in Psycholytischer Psychotherapie) entstanden ist – findet diese einen ihrer vielen Ausdrücke. Es folgten weitere Meisterstücke und Projekte, die der Vernetzung dienen: Aus dem zweiten Meisterkurs entstand 2011 die Ärztegesellschaft Avanti, die zu Echter Psychotherapie, Psycholyse und Alternativer Psychiatrie forscht. Mit dem zweiten Meisterkurs begann ab 2013 eine fachärztliche Kongressreihe zu ebendiesen Themen. Parallel dazu gestalten wir seit 2016 im Turnus mit anderen Gemeinschaften das Symposium «Zusammen leben». 2016 zog Ayse, die viele Jahre mit uns gelebt hat, in ihre türkische Heimat zurück und vernetzt uns dadurch intensiv nach «Yuva», die «kleine Heimat», die sie dort ins Leben rief. Und immer wieder entstehen neue zarte Herzverbindungen in die Welt, nach Kolumbien zum Beispiel… und wer weiss, wohin unser Gemeinschaftsgeflecht sich noch ausdehnen will.

Ein blühendes Feld

Markt2010 gründeten wir die landwirtschaftliche Genossenschaft Kirschblüte. Dario erwarb für uns ein Stück Wald am Dorfrand und wir kauften den 2,5 Hektar umfassenden Mühlegarten-Acker im Nennigkofer Dorfkern. Beginnend mit einem grossen Baumpflanztag betreiben wir hier seither in Eigenleistung ein grosses Selbstversorgungsprojekt, so dass wir mittlerweile hinsichtlich unseres Gemüsebedarfs beinahe über das ganze Jahr autonom sind. Von 2013 bis 2019 verkauften wir einen Teil unserer Überschüsse auf dem Solothurner Wochenmarkt. Für den Unterhalt unseres Mühlegarten­projekts haben wir über die land­wirtschaftliche Sommerwanderung Genossen­schaft die einzige gemein­schafts­interne Stelle (50%) geschaffen. Auf dem zugehö­rigen Wohn- und Gewerbe­land wollten wir neben Ökonomie- und Gewerbe­räum­lichkeiten für den land­wirt­schaft­lichen Betrieb Wohn­einhei­ten und ein Gemeinschaft­shaus mit grosser Küche, gemein­schaft­lichem Essraum und gross­zügigem Jugendraum realisieren. Da die Verwirklichung nicht möglich war, nimmt unser Gemeinschaftszentrum nun nach einigen Jahren des Wartens seit 2016 im ehemaligen Gasthof Rössli Gestalt an, der an das Mühlegartenquartier angrenzt und damit nur wenige Meter neben der ursprünglich geplanten Gemeinschafts­zone liegt – eine dieser glücklichen Schick­sals­fügun­gen also, die wir immer wieder erleben dürfen.

Im Sommer 2011 lief ein grosser Teil unserer Gemeinschaft mit Kindern und geschultertem Gepäck von Zuhause los: Eine zehntägige Sommerwanderung führte uns entlang der alten Aare und der Saane fast bis zum Schiffenensee. Im Sommer 2012 folgte eine Sommerwanderung der Emme entlang bis zum Hohgant-Gebiet, wo die Emme entspringt. Und eine letzte Sommerwanderung führte uns 2013 in den Jura, an den Ort, dem Samuels Familie entstammt.

Abschied

Ich habe ein Herz,
ein Königsherz habe ich,
ein Heldenherz.
The largest heart,
schreibt ein Freund,
sei das meine,
ein gebrochenes Häuptlingsherz,
meint meine Liebste.

Grosses Herz,
trauriges Herz: «Es schlägt nicht gut»,
äussert sich der nachdenkliche Arzt.
Es ist mein Herz,
das gemeinsame Herz,
das Herz der Menschheit.

Aus: Samuel Widmer, Die Erneuerung von uns selbst und unserer Welt 2018, S. 108

Im Januar 2017 ist es gebrochen, das Herz von Samuel. Leise hatte sich sein Tod angekündigt – in seinen inneren Auseinandersetzungen zumindest, die u.a. in seinem viertletzten Buch «…der Tod hingegen ist ein Morgen / Sterben» mündete. Überraschend war sein Gehen trotzdem für uns. Sein Fehlen spüren wir jeden Tag und immer in unserem Zusammensein. Und trotzdem läuft alles weiter, wandelt sich und ist gut, wie es ist.

Liebster –
Darf ich mit dir alt werden
Im Garten des Lebens
Ganz nahe bei dir sitzen
Wenn ich müde bin
Die Hände ruhen lassen
In meinem Schoss
Der Rosen Duft einatmen
Und die Wärme deiner Haut…

… habe ich dir einmal geschrieben
vor vielen, vielen Jahren –

Nun bin ich alt geworden
und müde, seit du nicht mehr bist
Die Hände kann ich noch nicht ruhen lassen
und die Schulter
an die ich meinen Kopf immer legen konnte
seit ich erwachsen wurde
gibt es nicht mehr

Keine milden Abende mehr
im Duft der Rosen
Die Welt ist nicht besser geworden
nicht stiller und nicht menschlicher
Es ist gut, konntest du gehen
und bleibt dir Vieles erspart

Ich bin nicht einsam
keinen Moment war ich es
seit du nicht mehr da bist
Alleine aber
oft alleine und traurig

Aus: Danièle Nicolet, Zeiten des Abschieds 2019, S. 80-81

Ein Duft von Magie – oder: Zukunftsweisendes

Samuels Abschied Im Sommer 2018 feierte ein Kreis von elf Kirschblüten eine tantrische Hochzeit. Wie schon bei früheren ähnlichen Festen, die meist in Mehrfach-Beziehungs- Konstellationen gefeiert wurden, ging es dabei darum, einem längst gelebten Umstand einen Ausdruck zu geben. Menschen, die schon lange als freundschaftlich verbundenes Feld, als Herzgruppe, unterwegs sind, anerkennen ebendies: Wir haben uns für immer aufeinander eingelassen, begleiten uns freundschaftlich in unseren Prozessen, sind einander Stütze und liebevolle Konfrontation auf dem Weg der Selbsterkenntnis, teilen den Alltag miteinander und unsere tiefsten Auseinandersetzungen. – Es ist ein Anfang unserer Vision einer Menschheit als ein in Freundschaft und Liebe erblühendes Feld.

Im selben Jahr wurde Ramon Mullis in den Gemeinderat und damit als erste Kirschblüte in ein politisches Amt des Dorfes ernannt. Auch sonst stand das Jahr im Zeichen der Integration und freundschaftlichen Verbundenheit: Wir beteiligten uns rege am Dorffest, welches Lüsslingen-Nennigkofen veranstaltete – u.a. mit einem Pita- und einem Crêpe-Stand, Auftritten von Bella Vita und unserem Chor, einem Kunsthandwerkstand und traditionellem Handwerk wie Tischlerei und Spinnerei – und nahmen die übrigen Angebote ebenso rege wahr. 2019 eröffneten wir in Zusammenarbeit mit anderen Leuten aus dem Dorf in der ehemaligen Gaststube unseres Gemeinschaftshofes den Rössli Dorfladen. Im Sommer 2020 konnten wir den neuen Garten des Gemeinschaftshofes einweihen und im Herbst mit dem Ausbau der zugehörigen Halle beginnen.

Wachstumsverlauf
Die bisherige Geschichte der Kirsch­blüten-Gemein­schaft ist also eine kirsch­baum­blüten­blätter­weisse Geschichte des Neu­beginns. Und es ist eine bunte Geschichte des Forschens und Entdeckens. Eine Geschichte der Freund­schaft und des Zusammen­gehens, aber auch von Alleine­stehen und Abschied­nehmen. Die Gemeinschaft ist gross geworden, viele Menschen haben hier zusammengefunden. Viele, die herkommen, lassen sich auf ein ganzes Leben ein. Andere gehen wieder, nach einem kürzeren oder längeren Verweilen. Einige wenige bisher, weil sie verstorben sind. Die anderen über 90 «Ehemaligen», weil sie anderswo einen Ruf verspürt haben. So ist es auch bei den Kindern, die hier geboren werden: Der Grossteil der mittlerweile erwachsenen zweiten Generation der Kirschblüten-Gemeinschaft ist geblieben oder kommt nach einer Weile des Weltentdeckens wieder und gestaltet das Gemeinschaftsleben aktiv mit. Inzwischen haben auch sie die ersten eigenen Kinder: Die dritte Kirschblüten-Generation wächst heran. Das ist für uns besonders schön, dass unsere Geschichte eine lebendige ist, eine die uns immer weiterführt – in unsere Tiefe und in die Welt.